Guy de Maupassant : Ein Paris-Abenteuer (Une aventure parisienne)
Extrait de Paris, un florilège - Paris-Lesebuch, Deutscher Taschenburg Verlag
Mise en forme HTML : Thierry Selva

Ein Paris-Abenteuer


    Gibt es ein heftigeres Gefühl als die weibliche Neugier? Erleben, wovon sie geträumt hat, es kennenlernen, anfassen - o, was würde eine Frau nicht dafür geben?! Ist ihre ungeduldige Neugier einmal erwacht, wird sie jede Torheit begehen, jede Unvorsichtigkeit, wird waghalsig sein und vor nichts zurückschrecken. Ich spreche von Frauen, die wirklich Frau sind, deren Witz mehr als doppelbödig ist: kühl und vernünftig scheint er an der Oberfläche, aber darunter hat er drei Geheimfächer: eines birgt die nimmermüde weibliche Unrast, das andere die unter dem Lack der Treuherzigkeit verborgene Schläue, die elegante und gefährliche Schläue der Scheinheiligen; das letzte schließlich birgt die bezaubernde Unverschämtheit, die Kunst der feinen Täuschung, die lustvolle Gemeinheit, und all die niederträchtigen Eigenschaften, die tumb-gutgläubige Liebende in den Selbstmord treiben, alle anderen aber begeistern.
    Ich will hier die Geschichte von einer schlechterdings untadeligen kleinen Frau vom Lande erzählen, deren Leben äußerlich ruhig verlief: in der Ehe mit einem vielbeschäftigten Mann war sie es, die sich der Erziehung der beiden Kinder widmete - eine ehrbare Ehefrau und Mutter. Doch tief in ihrer Brust vibrierte ungestillte Neugier, juckte das Unbekannte. Alle ihre Gedanken galten Paris, gierig verschlang sie die Zeitungen aus der Großen Welt. jeder Bericht von Festlichkeiten, Ballgarderoben, Vergnügungen ließ ihre Sehnsucht aufbrodeln, vor allem aber wurden ihr die Sinne auf rätselhafte Weise verwirrt vom Widerhall der Anspielungen, von den in gewandter Sprache halb gelüfteten Schleiern, die einen Blick auf sündhafte und hinreißende Genüsse mehr erahnen lassen als wirklich freigeben.
    Dort unten in der Provinz erschien ihr Paris als das Paradies des Wunderbaren, des Luxus, der Verdorbenheit.
    In langen Nächten des Halbschlafs, gewiegt vom gleichmäßigen Schnarchen ihres Mannes, der neben ihr, ein Tuch um den Kopf gewickelt, auf dem Rücken lag und schlief, träumte sie von den berühmten Männern, deren Namen auf den Titelseiten der Zeitungen prangen wie leuchtende Sterne am dunklen Himmel, und sie malte sich deren erregendes Leben aus, das voller Ausschweifung sein musste, voller schrecklich lüsterner Gelage antiken Ausmaßes, voller Sinnlichkeit von so raffinierter Verwicklung, wie sie es sich gar nicht ausmalen konnte.
    Die Straßen erschienen ihr wie eine bestimmte Art von Abgründen menschlicher Leidenschaften; alle ihre Häuser bargen ohne Zweifel die herrlichsten Liebes-Überraschungen.
    Und sie? Sie wurde älter und älter, ohne vom Leben mehr kennengelernt zu haben als das Gleichmaß des eintönigen und öden Alltags mit seinen einfachen Tätigkeiten, die angeblich das Glück am heimischen Herde bedeuten. Noch war sie hübsch: in diesem ruhigen Dasein hatte sie sich wie ein Lagerapfel im Schrank gehalten; doch im Innern war sie von ihrer Glut verzehrt, verwüstet, verwirrt. Sollte sie sterben, ohne all den verderblichen Taumel erlebt zu haben, ohne sich einmal, ein einziges Mal, ganz und gar in die Fluten der Pariser Wonnen gestürzt zu haben?
    Von langer Hand bereitete sie eine Reise nach Paris vor, erfand einen Vorwand, lieg sich von Verwandten einladen und - ihr Mann hatte nicht die Zeit, sie zu begleiten brach alleine auf.
    Kaum angekommen, wusste sie einen Grund zu nennen, weshalb sie möglicherweise zwei Tage - oder vielmehr: zwei Nächte - ausbleiben würde: sie sagte, sie habe alte Freunde wiedergefunden, die draußen in einem Vorort wohnten.
    Und nun ging sie auf die Suche. Sie durchstreifte die Straßen - und sah doch nichts, nur das herumirrende amtlich registrierte Laster. Sie spähte in die großen Cafés, las aufmerksam die kleinen Notizen im Figaro, die ihr jeden Morgen wie eine Alarmglocke, wie ein Aufruf zur Liebe vorkamen.
    Aber nichts brachte sie auf irgendeine Spur zu den großen Künstler- und Schauspielerfesten; nichts erschloss ihr die heiligen Stätten der Ausschweifung, die in ihrer Vorstellung mit einem Zauberwort verschlossen waren wie das Gemach in Tausendundeiner Nacht oder die Katakomben in Rom, wo sich im Verborgenen die Geheimnisse einer verfolgten Religion vollzogen.
    Ihre Verwandten waren Kleinbürger und konnten ihr nicht die Bekanntschaft mit einem der prominenten Männer vermitteln, deren Namen ihr im Kopf schwirrten. In ihrer hoffnungslosen Lage dachte sie schon an Abreise; da kam ihr der Zufall zu Hilfe.
    Als sie einmal die Rue de la Chaussé d'Antin hinabging, fiel ihr Blick auf die Auslage eines Geschäfts mit japanischer Kleinkunst von einer Farbigkeit, die die Augen vergüngt stimmte. Sie blieb stehen und betrachtete die niedlichen und lustigen Elfenbeinschnitzereien, die großen Porzellanvasen mit blitzblanker Glasur, die eigenartigen Bronzestatuetten. Drinnen im Laden hörte sie den Inhaber, wie er, untertänigst, einem kleinen, dicken Herrn mit Glatze und ergrautem Kinn eine riesige, dickbäuchige Porzellanfigur vorführte, eine Rarität, wie er sagte.
    Und in jedem Satz, den der Händler sagte, klang ihr der Name des Kunstliebhabers - ein berühmter Name - wie der Ruf eines Signalhorns. Die anderen Kunden, junge Frauen und gutgekleidete Herren, betrachteten den bekannten Schriftsteller mit einem flüchtigen Seitenblick und, wie es sich gehört, mit deutlicher Ehrerbietung; er seinerseits sah sich begeistert die Porzellanfigur an. Beide waren sie hässlich, hässlich wie zwei Brüder aus dem selben Mutterschoß.
    « Monsieur Jean Varin », sagte der Händler, « Ihnen lasse ich sie für tausend Francs, so viel habe ich selber dafür gezahlt. jeder andere müsste fünfzehnhundert zahlen, aber ich halte mir auf meine Künstler-Kunden etwas zugute und mache ihnen Sonderpreise. Alle kommen sie zu mir, Monsieur Jean Varin. Gestern hat Monsieur Busnach bei mir eine große alte Schale gekauft. Neulich habe ich Monsieur Alexandre Dumas zwei solche Armleuchter - sind sie nicht wunderschön?! - verkauft. Wenn Monsieur Zola das Stück sähe, das Sie da in der Hand halten, wäre es sofort verkauft, Monsieur Varin. »
    Der Schriftsteller war ratlos; der Gegenstand lockte ihn, doch beim Gedanken an den Preis zögerte er; um die Blicke scherte er sich nicht mehr, als wenn er allein in der Wüste gewesen wäre.
    Sie war zitternd hereingekommen, den Blick fest auf ihn gerichtet; ob er schön, gutgekleidet oder jung war, interessierte sie jetzt nicht: Es war Jean Varin, der leibhaftige Jean Varin!
    Nach einem langen inneren Kampf, einem schmerzhaften Zögern, stellte er die Figur auf einen der Tische und sagte: « Nein, das ist zu teuer. »
    Der Händler steigerte seine Beredsamkeit. « Oh, Monsieur Jean Varin, zu teuer? Zweitausend ist sie akkurat wert. »
    Der Intellektuelle erwiderte traurig, wobei er immer noch zu dem Porzellankerl mit den Email-Augen hinüberblickte: « Ich finde es nicht zu teuer, aber für mich ist es zu viel. »
    Nun trat sie vor, von kopflosem Wagemut gepackt, und fragte: « Und was würde der Kerl für mich kosten? »
    Überrascht antwortete der Händler:
    « Fünfzehnhundert Francs, Madame. »
    « Ich nehme ihn. »
    Der Schriftsteller, der sie bis dahin nicht wahrgenommen hatte, drehte sich erschrocken um und sah sie mit halboffenen Augen an wie einer, der es gewohnt ist, zu beobachten, von unten nach oben; dann musterte er sie mit Kennermiene.
    Sie war bezaubernd, lebhaft, nun auch erleuchtet von der Flamme, die bis dahin in ihr geschlummert hatte. Und eine Frau, die einen Ziergegenstand für fünfzehnhundert Francs kauft, ist schließlich nicht irgendwer.
    Mit einer Bewegung hinreißenden Zartgefühls wandte sie sich nun zu ihm und sagte mit zitternder Stimme: « Verzeihen Sie, Monsieur, ich war allzu lebhaft; vielleicht haben Sie noch gar nicht Ihr letztes Wort gesprochen. »
    Er, mit einer Verbeugung: « Es war mein letztes Wort, Madame. »
    Sie, ganz bewegt: « Also, Monsieur, heute oder später, wenn Sie Ihre Meinung zu ändern belieben, gehört die Figur Ihnen. Ich habe sie nur gekauft, weil sie Ihnen so gut gefällt. »
    Er lächelte, sichtlich geschmeichelt, und meinte: « Woher wussten Sie denn von mir? »
    Da erzählte sie ihm von ihrer Bewunderung für ihn, zitierte aus seinen Werken, geriet ins Schwärmen.
    Beim Plaudern hatte er sich mit dem Ellbogen auf ein Möbelstück gestützt; er versenkte seinen scharfen Blick in sie und versuchte etwas von ihr zu ergründen.
    Der Händler war froh über das lebende Aushängeschild; neue Kunden waren hereingekommen, und er rief von Zeit zu Zeit quer durch den Laden: « Schauen Sie sich das mal an, Monsieur Jean Varin, ist das nicht schön! » Dann hoben alle die Köpfe, und sie wurde von einem Freudenschauer durchzuckt, daß man sie in vertrautem Gespräch mit einem Prominenten sah.
    Trunken von diesem Glück, stieg ihr, wie einem Feldherrn vor dem Angriff, der Mut, und sie sagte: « Monsieur, tun Sie mir einen großen, einen allergrößten Gefallen. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen diese Figur schenke, zur Erinnerung an eine Frau, die Sie leidenschaftlich bewundert und der Sie für zehn Minuten begegnet sind. »
    Er wehrte ab. Sie bestand darauf. Er blieb hart, belustigt, aus tiefer Seele lachend.
    Sie, hartnäckig, sagte: « Na gut! Ich werde sie sofort zu Ihnen bringen. Wo wohnen Sie? »
    Er weigerte sich, seine Adresse zu nennen, doch sie erfragte sie beim Händler, bezahlte ihren Kauf und machte sich davon, zu einer Droschke. Der Schriftsteller lief ihr nach; er wollte der Gefahr entgehen, ein Geschenk zu erhalten, von dem er nicht wissen würde, an wen er es zurückgeben könnte. Er erreichte sie, als sie in den Wagen sprang, er stürzte ihr nach und fiel fast auf sie drauf, als die Droschke schaukelnd anfuhr. Ziemlich verdrossen nahm er neben ihr Platz.
    Er mochte bitten, betteln, darauf bestehen - sie erwies sich als unnachgiebig. Als sie vor seiner Haustür anlangten, stellte sie ihre Bedingungen: « Ich wäre einverstanden, Ihnen die Figur nicht zu überlassen, wenn Sie heute alle meine Wünsche erfüllen. »
    Das kam ihm so spaßig vor, dass er einschlug.
    Sie fragte: « Was machen Sie gewöhnlich um diese Tageszeit? »
    Er antwortete nach kurzem Zögern: « ich gehe spazieren. »
    Da gab sie, mit entschlossener Stimme, dem Kutscher die Anweisung: « Zum Bois de Boulogne. »
    Sie fuhren los.
    Er musste ihr alle bekannten Frauen aufzählen, vor allem die unzüchtigen, mit all ihren intimen Einzelheiten, ihrem Lebenswandel, ihren Gewohnheiten, ihrer häuslichen Einrichtung, ihren Lastern.
    Der Abend kam. « Was machen Sie denn jeden Tag um diese Zeit? », fragte sie.
    Lachend erwiderte er: « Ich trinke meinen Wermut. »
    Da sagte sie, gewichtig: « Dann gehen wir jetzt Wermut trinken Monsieur. »
    Sie betraten ein großes Straßencafé, wo er regelmäßiger Gast war, und trafen dort seine Kollegen. Er stellte ihr alle vor. Sie war selig vor Freude. Unablässig hallte ein Wort in ihrem Kopf: « Endlich, endlich! »
    Die Zeit verging, und sie fragte: « Ist das jetzt die Stunde, wo Sie zu Abend essen? »
    Er erwiderte: « Ja, Madame. »
    « Gut, Monsieur, gehen wir zu Abend essen. »
    Als sie das Café Bignon verließen, fragte sie: « Was machen Sie abends?
    Er sah sie entschlossen an: « Kommt darauf an, manchmal gehe ich ins Theater. »
    « Na gut, Monsieur, gehen wir ins Theater. »
    Dank seinem Ruf bekamen sie noch Plätze im Vaudeville, und sie war, Gipfel des Glanzes, vom ganzen Saal aus an seiner Seite auf den Balkonplätzen zu sehen.
    Nach dem Ende der Vorstellung gab er ihr einen galanten Handkuss: « Mir bleibt nur noch, Madame, Ihnen für diesen wunderschönen Tag zu danken... » Sie unterbrach ihn: « Was machen Sie des Nachts um diese Zeit? »
    « Ich... äh... ich gehe nach Hause. »
    Da begann sie zu lachen, ein bebendes Lachen.
    « Gut, Monsieur, gehen wir zu Ihnen nach Hause. »
    Nun sprachen sie nicht mehr. Von Zeit zu Zeit schauderte sie, von den Füßen bis zum Kopf, und sie hatte das heftige Gefühl, fliehen zu müssen und das ebenso heftige Gefühl, bleiben zu wollen; doch im Grunde ihres Herzens war sie fest entschlossen, den Weg zu Ende zu gehen.
    Im Treppenhaus musste sie sich am Geländer festhalten, so heftig wurde ihre Erregung; er stieg vor ihr die Treppen hinauf, schwer atmend, ein Wachsstreichholz in der Hand.
    Oben im Schlafzimmer zog sie sich rasch aus, schlüpfte ohne ein Wort ins Bett und wartete, gegen die Wand gekehrt.
    Sie war einfältig, wie nur die angetraute Ehefrau eines Notars in der Provinz einfältig sein konnte, er aber war anspruchsvoller als ein Pascha mit drei Quasten. Sie verstanden sich nicht, ganz und gar nicht.
    Er schlief ein. Die Nacht ging leise ihres Weges, nur das Ticken der Uhr war zu hören, und sie lag unbewegt da und dachte an ihre ehelichen Nächte. Im gelben Schein einer chinesischen Lampe sah sie, geschmerzt, den kleinen Mann neben sich liegen, auf dem Rücken, kugelrund, und sein Kugelbauch hob die Bettdecke wie ein gasgefüllter Ball. Er schnarchte wie eine Orgelpfeife, mit lang hingezogenem Schnauben, mit komischem Würgen. Seine zwanzig Haare standen infolge seines Liegens eigenartig ab, als erholten sie sich von der langen Fixierung auf seinem nackten Schädel, dessen Öde sie verdecken sollten. Und ein Spuckefaden troff aus dem Winkel seines halboffenen Mundes.
    Endlich ließ die Morgendämmerung ein wenig Tageslicht zwischen den geschlossenen Läden hereindringen. Sie stand auf, kleidete sich leise an; als sie die Tür schon halb geöffnet hatte, passierte ihr ein Knarren im Schloss; er erwachte und rieb sich die Augen.
    Einige Sekunden brauchte er, um wieder ganz zu sich zu kommen; und als ihm dann das ganze Abenteuer wieder eingefallen war, fragte er: « Ach so, Sie wollen gehen?"
    Sie blieb stehen, verwirrt. Sie stammelte: « Aber ja, es ist Morgen. »
    Er setzte sich auf und sagte: « Warten Sie, nun ist die Reihe an mir, Sie etwas zu fragen. »
    Als sie nicht antwortete, fuhr er fort: « Sie haben mich ganz schön in Erstaunen versetzt gestern. Seien Sie ehrlich und verraten mir, warum Sie das alles getan haben; ich verstehe überhaupt nichts mehr. »
    Vorsichtig kam sie ihm näher und errötete wie ein junges Mädchen: « Ich wollte das ... das äh ... das Laster kennenlernen ... äh ... das ist nicht komisch. »
    Und sie machte sich davon, lief die Treppe hinunter und stürzte sich ins Gewühl der Straßen.
    Heerscharen von Straßenfegern fegten die Straße. Sie fegten die Gehsteige, fegten das Pflaster und schoben allen Unrat in den Gully. Mit der gleichen ruhigen Bewegung wie die Sensenmänner auf den Wiesen schoben sie den Dreck halbkreisförmig vor sich her; von Straße zu Straße fand sie die Arbeiter wieder, wie Spielzeugmännchen, die von einer Feder angetrieben werden und mechanisch laufen.
    Und es war ihr, als wäre in ihr auch etwas weggefegt, als wären ihre überreizten Phantasien in die Gosse, in den Gully gefegt worden.
    Sie kehrte nach Hause zurück, am Ende ihrer Kräfte, durchgefroren; im Kopf nur die Wahrnehmung von der Bewegung der Besen, die morgens die Stadt Paris fegen.
    Erst in ihrem Schlafzimmer überkam sie das Schluchzen.